Von besonderem Interesse sind die Ereignisse, bei denen zwar genug Informationen für qualitativ gehaltvolle Spekulationen herausgegeben werden, aber genau soviel verborgen bleibt, dass zuviele Möglichkeiten offen bleiben. Die X-37 scheint so ein Fall zu sein, und es ist interessant zu lesen, welche Gedanken dazu aufkommen. Dabei ist, wenn man die Situation genau betrachtet und alle Umstände mit hinzuzieht, gar nicht soviel mysteriöses an diesem kleinen Transporter.
Ich will in der Entwicklungsgeschichte nicht zu weit ausholen, denn der Weg über die X-40 und die Parallelforschung mit der X-38 sind bekannt oder können zumindest einfach nachgelesen werden. Trotzdem muss man sich bewusst machen, dass durch die in den neunziger Jahren bereits deutlich abzusehende Ausmusterung der Space Shuttles auf der einen Seite, die Budgetstreichungen auf der anderen Seite aber der Nutzung des Weltraums zu zivilen und militärischen Zwecken neue Wege beschritten werden müssen. Dazu zählte auf der einen Seite die Förderung von Privatunternehmen als Dienstleister für den Weltraumtransport, auf der anderen Seite auch die stärkere Bündelung der Forschung von der NASA und dem Space Command als Dachorganisation des DoD. Die X-37 ist ein Produkt dieser Zusammenarbeit.
Hier wurde festgehalten, dass die Forschung und Entwicklung mit der X-37A abgeschlossen worden wäre, so dass die X-37B anderen Zwecken dienen muss. Dies ist so betrachtet falsch, denn es wurde zwar die Grundstruktur damit festgelegt, das eigentliche Testprogramm begann mit der X-37B aber erst. Interessant ist vielmehr der Wechsel von der Führung der NASA hin zur Air Force, die mit dieser neuen Version vollzogen worden ist. Denn dieser Wechsel stärkte die Gerüchte um militärische Nutzungen - obwohl die Erklärung der Finanzierung durchaus logisch ist.
Auch wurde hier darauf verwiesen, welche hohe Priorität dieses Projekt haben müsse, wenn man es mit viel zu großen Raketen wie der Delta IV oder der Atlas V starten würde. Auch hier ist die Erklärung in meinen Augen zu einfach. Ursprünglich sollte die Erprobung mit dem Space Shuttle erfolgen. Als diese Möglichkeit weggefallen war sollte die Delta II eingesetzt werden. Dies führte allerdings zu zwei Problemen. Zum einen war die Delta II mit der Nutzlast der X-37B an ihrer Belastungsgrenze, zum anderen war sie zu klein für einen gekapselten Transport. Beides zusammen hätte dazu geführt, dass man die X-37B offen transportieren müsste - nur war das Gerät dafür nicht ausgelegt.
Die beiden deutlich schwereren Transporter Delta IV und Atlas V blieben als einzige Alternativen übrig. Da ein gekapselter Transport als notwendig erachtet wurde musste man auf die 5m-Versionen zurückgreifen und entschied sich dann für die kleinstmögliche Konfiguration in Form der Atlas V 501. So überdimensioniert war diese Rakete nicht, für die letztlich zu erzielende Umlaufbahn kann eine Nutzlast von knapp siebeneinhalb Tonnen mitgeführt werden, die X-37B kommt inklusive aller notwendigen Systeme und Strukturelemente auf knapp sechs Tonnen, wobei die X-37B selbst knapp fünf Tonnen schwer ist. Auf der einen Seite hatte man keine andere Wahl, auf der anderen Seite passt die Atlas V durchaus ziemlich gut zu den Anforderungen. Deutlich übertrieben ist deren Leistungsfähigkeit insofern also nicht.
Aufgrund der Situation darf man davon ausgehen, dass die Bezeichnung Prototyp für die X-37B noch immer passend ist. Der Raumtransporter soll in erster Linie Technologien und Verfahren in der Praxis erproben, die für ein zukünftiges Transportsystem verwendet werden sollen. Während die X-37A bereits die Forschung für Atmosphärenflüge durchführte, übernimmt die X-37B den Teil der Raumflüge, testet die Haltbarkeit der Systeme, einen neues Antriebskonzept zur Lageänderung, autonome Flugkontrollsysteme, usw. Neben der offiziellen Liste gibt es auch noch eine inoffizielle Liste, zu der es keine offiziellen Äußerungen gibt. Das gleiche gilt auch für die Entwicklungsziele. Für die NASA sind die Forschungsergebnisse der X-37B wichtig für die Entwicklung des SLS genauso wie der Orion-Kapsel. Zudem ist man immer noch an einem luftgestarteten, flexiblen und kostengünstigen Raumflugzeug interessiert, für das die X-37B Grundlagenarbeit liefert. Die US Air Force hingegen ist unter dem aufkommenden Kostendruck angewiesen, für die Überwachungssatelliten eine zukunftsfähige Lösung zu entwickeln. Während zwar die Startkosten selbst sinken, erhöhen sich die Kosten für die technischen Geräte an Bord der Satelliten deutlich. Zudem sind sie vergleichsweise unflexibel im Einsatz, was eine große Zahl notwendig macht. Eine mögliche Strategie sieht eine Flotte von Kleinsatelliten für die Routineüberwachung vor, die auch in ziviler Kooperation betrieben werden könnten. Ergänzt werden sollen diese durch wiederverwendbare Systeme, die eine extrem hochwertige Missionsausrüstung und die sehr flexible Nutzung für einzelne Szenarien bei gleichzeitig geringer Stückzahl ermöglichen würde. Ein wiederverwendbarer Raumtransporter ist dabei die logische Konsequenz.
Ob die X-37B bei ihren Missionen bereits eine Nutzlast an Bord hatte oder nicht ist vorerst nicht aufzuklären. Es handelt sich relativ zweifelsfrei um Test- und Erprobungsflüge, dies muss aber auch für Nutzlastkonzepte gelten - so dass hier durchaus bereits praktische Anwendung erfolgt sein könnten. An der langen Dauer oder der Geheimhaltung selbst kann man das jedoch nicht ableiten.
Als serientaugliches Produkt kann man die X-37B ebenfalls nicht bezeichnen. Sollten die Pläne der US Air Force umgesetzt werden, dürfte die Serienmaschine spürbar größer werden. Als Startgeräte stehen dafür Delta IV Heavy zur Verfügung, Spielraum ist genug vorhanden.
Zum Thema Geheimhaltung noch eine kleine Anekdote zum Schluss. Beim ersten Start der X-37B im April 2010 war ich auf Empfehlung der US Air Force und Einladung der NASA (als administrativer Gastgeber der Presse) mit dabei und hätte den Start fast verpasst, weil die Flüge wegen dem isländischen Vulkanausbruch einige Tage vorher fast alle gecancelt worden sind. Auf eigene Verantwortung (das mussten wir tatsächlich bestätigen) hat uns die Lufthansa dann doch noch transportiert. Relativ freizügig wurde mit der Presse zu dem Zeitpunkt auch über die X-37B und die generellen Missions- und Entwicklungsziele geplaudert. Nur bei konkreteren Fragen zur Nutzlast und speziellen Missionszielen gab man sich verschlossen. Auch wurde nicht der normale Pressebereich der NASA genutzt, sondern Räumlichkeiten, die den Charme der sechziger Jahre versprüten und scheinbar längere Zeit nicht genutzt wurden. Für den zweiten Start gab es hingegen gar keine Einladungen oder Akkreditierungen mehr. Dafür hätte man bei der Landung dabei sein dürfen. Viel Spaß beim Spekulieren.